Freitag, 27. Juli 2012

Nachtschicht


Für meinen Großvater,
der aus Eisstielen Vogelhäuser gebaut hat.

Die Nacht war mild und so klar, dass man die Sterne am Himmel sehen konnte. Er liebte die seltsame Stille auf seinem Weg zur Arbeit. Auf den Straßen war um diese Uhrzeit nicht mehr viel los. Ganz in der Nähe hörte man ein Auto um die Kurve rasen oder traf auf einen Nachbarn, der mit dem Hund noch schnell eine Runde um den Block drehte. Das Licht der Laternen flackerte hier und da, der Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln. Die Rollläden waren heruntergelassen und die Welt hatte sich schlafen gelegt.
Er aber schlief nicht. Als Bäckermeister hatte er schließlich früher als die anderen aufzustehen. Schon sein Vater und dessen Vater hatten damals jeden Tag in Allerherrgottsfrühe in der Backstube gestanden, Teig zubereitet, Bleche in den großen Ofen geschoben und sich pünktlich zur Ladenöffnung zurück gelehnt und stolz, allerdings nicht weniger erschöpft zugesehen, wie die Backwaren schließlich über die Ladentheke gingen.
Er nahm die Abkürzung durch den Park, vorbei an dem kleinen Ententeich, in dem schon lange keine Ente mehr gesehen worden war und den steinernen Schachtischen. Mit seiner Frau hatte er hier vor ein paar Wochen darum gespielt, wer sich den Namen des Kindes aussuchen durfte, das sie erwarteten. Es war das Erste und ausgerechnet diese Partie hatte er verloren. Sonderlich gut im Schach war er nicht, ein gerechter Wettstreit war es daher also nicht gewesen, aber ebenso ungerecht wäre ein Wettrennen mit einer hochschwangeren Frau gewesen.
Seit ihrer Hochzeit vor einem knappen Jahr wohnten sie in einem hübschen kleinen Häuschen mit Garten. Ihr Kind sollte schließlich in einem ordentliches zu Hause aufwachsen, auch wenn das hieß, dass er in Zukunft jeden Penny zweimal umdrehen musste. Zu der Taufe des Kindes wollte er einen Apfelbaum im Garten pflanzen. Eine Tradition aus der Heimat seiner Mutter. Die Jahre würden vergehen und er würde dafür sorgen, dass sein Kind auf feste, tief im Boden verankerte Wurzeln vertrauen konnte, dass es den nötigen Halt fand um zu wachsen.
Vom Park aus gelangte er schließlich zu dem schmalen Kiesweg, der parallel zu den Gleisen verlief. Polternde Güterzüge fuhren in alle mögliche Gegenden. Er sah sich um und kletterte kurzerhand über den Schotter auf die Gleise. Auf der anderen Seite konnte er hinter dem Gebüsch und dem schäbigen alten Kiosk schon die Backstube sehen. Auf seinem Heimweg am Tag verzichtete er auf diese Abkürzung und nahm die üblichen Weg bis zum Bahnübergang in knapp 200 Metern Entfernung. Aber wenn es noch dunkel war und er dabei keine Spaziergänger erschreckte und auch noch nicht so viel Zugverkehr auf den Gleisen herrschte, erlaubte er sich diesen kleinen Luxus.
Im selben Augenblick stolperte er, geriet ins Straucheln und fiel schließlich vornüber zu Boden. Mit dem Oberschenkel landete er hart auf der Schnienenkante. Eine Distel! Er war doch tatsächlich mit seiner Hose an den stacheligen Blättern einer Distel hängen geblieben, die sich durch den Schotter hindurch einen Weg in die Freiheit gebahnt hatte. Er setzte sich hin und wollte das Unkraut an seinem Bein abschütteln - erfolglos. Stattdessen schienen sich die feine Spitzen nur noch tiefer in dem Stoff seiner Hose zu verbeißen.
Wo kam das Licht auf einmal her? Ehe er das, was er sah, was er hörte, roch und fühlte in einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sein Herz für einen Sekundenbruchteil still und nahm er einen kräftigen Atemzug. Dann kribbelte es in ihm, erst langsam, dann schnell und heftig bis der Gedanke schließlich mit erschreckender Klarheit und zeitgleich mit dem Poltern des Zuges in seinem Kopf ankam.
Es würde sein letzter Atemzug sein.

Das Ticken der Wanduhr, die über dem kleinen Tisch in der Küche hing, hallte dumpf in ihrem Kopf wieder. Es war bereits mittags. Sie hatte auf einem der Stühle Platz genommen und zwickte sich müde in die Nasenwurzel, um ihre Augen daran zu hindern zuzufallen. Die letzten Stunden hatte sie damit verbracht den schmalen Flur auf und ab zu wandern und auf jeden noch so kleinen Laut zu achten. Der Polizeibeamte, der in der Nacht vorbeigekommen war, hatte ihr versichert, dass er sich melden würde, sobald er irgendwelche Neuigkeiten hätte. Funktionierte das Telefon überhaupt? Sie kam sich schon ein wenig eigenartig vor, als sie alle paar Minuten den Hörer aufnahm, nur um sich des Freizeichens zu vergewissern.
Ihr Sohn war gleich gekommen, als sie ihn angerufen hatte. Sie hörte wie die Klospülung nebenan im Badezimmer betätigt wurde. Kein Wunder, er hatte ja auch Unmengen Wasser, Kaffee und was er sonst noch gefunden hatte getrunken. Vielleicht vor lauter Anspannung, vielleicht weil das bange Warten ihn tatsächlich durstig machte, sie wusste es nicht. Ansonsten saß er nahezu tiefenentspannt auf seinem Platz in der Sitzecke und hatte ein paar alte Zeitungen vom Stapel genommen und durchblättert. Zum Teil bewunderte sie ihn für die Ruhe und Gelassenheit, die er ausstrahlte, zum Teil machte es sie wahnsinnig, dass er so unberührt dasitzen und den Sportteil lesen konnte. Sie wusste ja selbst, dass ihr ständiges Auf- und Ablaufen ihn auch nicht einfach so herzaubern konnte, aber wenigstens fühlte sie sich dabei nicht tatenlos.
All die Jahre hatten sie gemeinsam bestritten, einige turbulenter als andere. Jede Falte in ihrem Gesicht schien eine andere Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen. Mittlerweile würden die Geschichten vermutlich ein ganzes Buch füllen können. Zu ihrer Enkelin hatte sie einmal scherzhaft gesagt, dass bald wohl kein Platz mehr für Falten in Omas Gesicht seien würden und dass die Falten dann womöglich in das muntere Gesicht ihrer Enkelin umsiedeln würden. Mit großen Augen und nachdem sie das Gesicht für faltenfrei befunden hatte, hatte die Kleine an ihrem Bild weiter gemalt. Auf ihrem Bild hatte sie ihre Großeltern, das Haus und den Garten mitsamt dem Apfelbaum gemalt, der mittlerweile so groß und dicht war, dass er das ganze Licht vor dem Wohnzimmerfenster wegnahm. Immerhin schmeckten die Äpfel.
Da klingelte es. Sie fuhr hoch und eilte zur Tür, gefolgt von ihrem Sohn, der ihr seine Hand auf die Schulter lag. Es war der Polizist von heute Nacht, dem sie erzählt hatte, dass ihr Ehemann spurlos verschwunden war. Dem sie erzählt hatte, dass er mitten in der Nacht aufgestanden sein musste, sich seine Schuhe angezogen und die Jacke übergeworfen, den Hausschlüssel vom Haken genommen haben musste und zur Haustür hinaus gegangen sein musste. Dem sie erzählt hatte, dass ihr Mann neuerdings Medikamente nahm, die zwar seine Schmerzen linderten, seiner Ehefrau allerdings auch eine höllische Angst einjagten, weil sie ihn Dinge sehen ließen, die sonst niemand sah, beispielsweise Katzen in einem völlig leeren Flur oder Menschen, die durch das Fenster hinein starrten.
»Da bist du ja. Und du bist wohlauf.«, hörte sie sich schluchzen und fiel ihrem Mann in die Arme.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«, fragte ihr Sohn mit gedämpfter Stimme und deutete dem Polizisten an einzutreten.
Er räusperte sich. »Nun ja, Ihre Mutter hat im unserem Gespräch eine ganze Reihe Orte genannt, an denen er sich bevorzugt aufhält oder wo man ihn sonst vielleicht finden kann. Einer meiner Kollegen ist dorthin gefahren, wo früher mal die Bäckerei gewesen war, in der er gearbeitet hat.«
»Also haben Sie ihn dort gefunden?«
»Nicht ganz. Der Kollege war vor Ort und hat auch die nähere Umgebung untersucht.« Er warf einen flüchtigen Seitenblick auf den alten Mann. Seine Frau half ihm aus der Jacke.
»Er lag auf den Gleisen am Ostend, als er heute Morgen um 8 Uhr 32 gefunden wurde.«
»Aber es geht ihm doch gut, oder?« Sein Sohn beugte sich näher zu dem Beamten heran.
»Ich fürchte nein, ganz und gar nicht. Physisch fehlt ihm nichts, er hat nur ein paar Schürfwunden. Doch das, was er erzählt hat, als man ihn fand, bereitet mir Sorgen.«
»Inwiefern? Wovon sprechen Sie?«, fragte der Sohn prompt.  
»Er sagte, er sei gestürzt auf seinem Weg zur Arbeit. Wiederholte es immer und immer wieder, sagte, dass er gleich den Laden aufschließen müsse und seine Schicht beginne.«
»Da hat er sich mit Sicherheit einen kleinen Scherz mit Ihnen erlaubt. Er hat manchmal einen ziemlich eigentümlichen Humor, verstehen Sie.« Er drehte sein Wasserglas in den Händen.
»Da ist noch etwas.« Der Polizist schluckte, ehe er weitersprach. »Er zitterte am ganzen Leib, als mein Kollege ihn gefunden hat, wirkte konfus. Er sagte, dass er einen Zug auf sich zufahren gesehen habe.« Ehe er weitersprach, nahm er seine Mütze ab. »Auf einem Gleis, das seit 35 Jahren stillgelegt ist.«

1 Kommentar:

  1. Super Text, richtig gut geschrieben!! Ich bin gespannt auf mehr. ;)

    Vielleicht mögt ihr euch ja auch bei meiner Blogvorstellung eintragen. Ich habe sie noch nicht angekündigt, aber über meinen Blog kann man sie schon aufrufen. ;)
    LG♥ Con el tiempo

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